Kälteperiode im Ozean im frühen 20. Jahrhundert weniger ausgeprägt als bisher angenommen
Die Ozeane im frühen 20. Jahrhundert (1900-1930) waren weniger kalt als bisher angenommen. Ursache dafür sind Veränderungen in den Messmethoden in dieser Zeit. Diese Erkenntnisse haben jedoch keinen Einfluss auf die Quantifizierung der globalen Erwärmung zwischen 1850 und 1900, betonen Klimaforschende rund um Sebastian Sippel (Universität Leipzig) und Reto Knutti von der ETH Zürich.
Bei globalen Temperaturschätzungen werden häufig Daten von Ozeanen und Landoberflächen kombiniert. Die Interpretation von Daten aus dem frühen 20. Jahrhundert kann jedoch aufgrund der im Laufe der Jahre erzielten Fortschritte bei den Messtechnologien eine Herausforderung darstellen. Laut den Klimaforschenden sind die globalen Messungen der Meeresoberflächentemperatur in diesem Zeitraum daher nicht mit den Landlufttemperaturen und paläoklimatischen Daten vereinbar, und die Unterschiede zwischen Land und Meer sind grösser als in Klimamodellen dargestellt. Die Ursache für diese zu kalt angenommene Ozean-Kälteperiode dürfte in der unzureichende Information über Veränderungen in den Messmethoden in dieser Zeit liegen.
Korrektur einer Kälteperiode
Die neuen Ergebnisse haben jedoch keinen Einfluss auf unsere Erkenntnisse zum langfristigen Klimawandel und dessen menschgemachten Ursprung haben, betont Sebastian Sippel, Juniorprofessor für Klima-Attribution an der Universität Leipzig. Die Land- und Ozeantemperaturen des 19. Jahrhunderts (1850-1900), also vor dem Auftreten der Kälteperiode, liefern ein physikalisch sehr konsistentes Bild der Temperaturveränderungen bis in die heutige Zeit. Die Korrektur dieser Kälteperiode könnte aber unser Wissen über historische Klimaschwankungen verändern und zugleich die die Qualität zukünftiger Klimamodelle verbessern.
Messmethoden im Visier
Das Verständnis des globalen Temperaturverlaufs seit Beginn der Messungen ist entscheidend für die Klimaforschung. Allerdings sind die Temperaturmessungen im Ozean aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg aufgrund sich ändernder Messmethoden mit Unsicherheiten im Bereich von ein bis zwei Zehntelgrad behaftet. Wie ein Puzzle hat Sippel zusammen mit internationalen Wissenschaftler:innen die globale Mitteltemperatur aus historischen Klimadaten rekonstruiert – zum Teil aus historischen Land- und Ozeanklimadaten und paläoklimatischen Untersuchungen. Beim Vergleich von Land, Küsten und Ozean fiel ihm eine systematische Abweichung auf: Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Ozeantemperaturen niedriger als in den Jahrzehnten zuvor, während die Temperaturen an Land und an den Küsten relativ konstant blieben. Aufgrund der Physik und der Klimamodelle wäre das nicht zu erwarten gewesen.
«Die revidierten Daten bestätigen die Modelle und zeigen den menschlichen Einfluss seit vorindustriell noch deutlicher.»Reto Knutti, Professor für Klimaphysik an der ETH Zurich
Revidierte Daten bestätigen die Modelle
Die neue Studie zeigt im Ausschlussverfahren, dass die vorhandenen Schätzungen der globalen Mitteltemperatur aus Ozeandaten aus dieser Zeit zu kalt sind: im Durchschnitt etwa 0,26 Grad Celsius kälter als aus landbasierten Schätzungen zu erwarten wäre. Diese Diskrepanz ist grösser, als es die natürliche Klimavariabilität zulassen würde. «Unsere aktuellen Ergebnisse ändern nichts an der Langzeiterwärmung seit 1850. Wir können aber nun den historischen Klimawandel und Klimavariabilität besser verstehen», betont Sippel. So wurden beispielsweise die Gründe für die erste grosse Erwärmungsperiode zwischen 1900 und 1950 bislang nie ganz verstanden. Würde man nun die Ozeantemperatur korrigieren, wäre der Erwärmungstrend des frühen 20. Jahrhunderts etwas moderater, die Erwärmung in diesem Zeitraum wäre schwächer. «Die Abweichungen zwischen den Klimamodellen und dem beobachteten Temperaturverlauf zu Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich weder mit natürlichen Klimaschwankungen über Jahrzehnte noch mit unvollständigen Klimamodellen erklären, sondern durch ein lückenhaftes Verständnis der Beobachtungen. Die revidierten Daten bestätigen die Modelle und zeigen den menschlichen Einfluss seit vorindustriell noch deutlicher», sagt Mitautor Reto Knutti, Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich.
Warum historische Klimadaten wichtig sind
Die Studie selbst liefert Hinweise darauf, dass die Ursache der Ozean-Kälteanomalie in unzureichend dokumentierten Informationen über die Messmethoden in dieser Zeit liegen könnte. Die Ozeantemperaturen wurden vor dem Zweiten Weltkrieg überwiegend mit Eimern auf Schiffen gemessen, aber die Messmethodik sowie auch die Zusammensetzung der Schiffsflotten änderten sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, was die Korrektur systematischer Messfehler deutlich erschwert. Die Autor:innen der Studie fordern daher vielfältige Ansätze in Datenverarbeitung und Auswertung: «Unsere methodische Herangehensweise unterstreicht die Notwendigkeit, historische Klimadaten kontinuierlich zu retten und zu digitalisieren, und mit unabhängigen Daten zu vergleichen. Zugleich sollten ganz verschiedene Annahmen bezüglich systematischer Korrekturen früher Klimadaten getestet werden, da die Beobachtungsdaten als Grundlage für Klimaverständnis und -modellierung einen zentralen Stellenwert haben», so Sippel.
Literaturhinweis
Sippel S, Kent EC, Meinshausen N et al. Early-20th-century cold bias in ocean surface temperature observations. Nature 635, 618–624 (2024). doi: externe Seite 10.1038/s41586-024-08230-1